800 -jähriges Bestehen des Thomanerchors

Nichts für Mädchen
Der Thomanerchor feiert sein 8OO-jähriges Bestehen. SUPERillu traf sieben ehemalige
und aktive Sänger zu einem Generationen-Gespräch über Heimweh, Fußball und die Frage, warum
in dem von Bach gegründeten Knabenchor bis heute keine Mädchen mitsingen dürfen.

Am Ende des Treffens mit SUPERillu gibt es für die sieben Herren noch einen Fototermin in der altehrwürdigen Thomaskirche.
Als sie sich fürs Gruppenfoto aufstellen, stimmt der Älteste von ihnen, Kammersänger Reiner Süß, 82, spontan den Bach-Choral „Gloria sei dir gesungen" an. Seine feine sonore Stimme erklingt, nacheinander fallen die anderen ein. Der Gesang schwebt durch das Kirchenschiff. Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Gänsehaut-Feeling pur. Danach sagt Süß: „Wer einmal in Bachs Chormusik eingetaucht ist, kann sich quasi blind darin bewegen. Im Chor zu singen verlernt man niemals wieder, so wie Schwimmen oder Radfahren."
Festwoche
Leipzig singt und klingt in diesen Tagen. Denn der Thomanerchor feiert sein Jubiläum in allen Tonlagen. Höhepunkt der fulminanten Festwoche vom 19. bis 25. März ist das internationale Knabenchor-Festival, das Gipfeltreffen der Chormusik. Die Regensburger Domspatzen kommen, der Dresdner Kreuzchor und die Jungs vom Londoner King's College.
Mitten im Festivaltrubel lud SUPERillu sieben Thomaner ins „Johann S."
Der Name des Cafes, das sich in direkter Nachbarschaft zur Thomaskirche befindet, ist eine Anspielung auf Johann Sebastian Bach, der von 1723 bis 1750 Chef der Thomaner war und viele Werke für „seinen" Chor komponierte.
Alte Zeiten
Die sieben Herren begrüßen sich mit großem Hallo. Sofort ist der Raum von einer speziellen Atmosphäre erfüllt. Man spürt,dass die Sänger etwas Besonders verbindet. Das Fachsimpeln beginnt, das Schwelgen in Erinnerungen. Reiner Süß genießt es sichtlich, mit den jüngeren Thomanern zu plaudern. Alle lauschen ihm gespannt: „Zu meiner Zeit herrschte noch eine strenge, fast klösterliche Disziplin. Die Älteren hatten das Bestrafungsrecht über die Jüngeren, was weidlich ausgekostet wurde. Bei Auftritten rammten sie uns den Takt mit
Schlüsseln in den Rücken! Ich weinte oft nicht nur aus Heimweh!"
Moderne.
Ferdinand Keller, 18, kann bei solchen Geschichten nur mit dem Kopf schütteln. „Das klingt ja furchtbar, richtig mittelalterlich. Wir sind nicht so aggressiv!" Keller muss es wissen, schließlich ist er „Domesticus", eine Art Ober-Thomaner. Als solcher trägt er viel Verantwortung, z.B., dass die Kieler Blusen, die Konzertkleidung der Sopranisten und Altisten, korrekt sitzt.
David Timm, 41, inzwischen Musikdirektor der Universität Leipzig, war in den 80er-Jahren Thomaner: „Wer sich heute daneben benimmt, zum Beispiel während der Probe tuschelt, muss die Tische im Speisesaal abräumen oder die Bleistiftstriche aus den Noten radieren." Und das Wort „Strafe" gibt es längst nicht mehr. Die Erziehungsmethoden werden zeitgemäß „soziale Maßnahme" genannt, was im Chorjargon mit „SM" abgekürzt wird.
Reisen um die Welt
Pro Jahr absolvieren die 91 Thomaner drei bis fünf Gastspielreisen ins Ausland. Im Februar waren sie in Fernost, im März in Großbritannien. Jakob Wetzig, der Jüngste dieser Runde, hat mit seinen 13 Lenzen schon viele Konzertbühnen auf diesem Planeten gesehen. „Buenos Aires war echt toll. Die Südamerikaner sind ganz anders drauf. Lässiger und verrückter. Dafür, dass die Zuhörer schon mal eine halbe Stunde zu spät kommen, applaudieren sie aber auch,dass es kracht. Und die größten Fans gehen zum Hinterausgang und klatschen dort weiter."
DDR
Zu den Zeiten von Hans-Jürgen Beyer, 62, waren Konzertreisen ins westliche Ausland tabu. „Meine Thomanerjahre waren die Sechziger, die Zeit nach dem Mauerbau. Deshalb traten wir nur in Warschau auf. Ein ,tolles' Ziel, verglichen mit zum Beispiel Tokio!"
Beyer tröstete sich, indem er in der Freizeit von einer Karriere als Rockstar träumte. „Nach den Chorjahren wollte ich auf die Unterhaltungsschiene. Deshalb übte ich in jeder freien Minute Gitarrenriffs." Tatsächlich war Beyer später Sänger der legendären Gruppe „Renft", machte dann Karriere als Entertainer und Schlagersänger.
Sport
Ex-Thomaner David Timm verbrachte seine Freizeit am liebsten auf dem Bolzplatz: „Ohne Fußball wäre der Alltag schwer zu ertragen gewesen. Sport ist wichtig für Musiker." Große alljährliche Sport-Gaudi: das Fußballturnier gegen die Dresdner Kruzianer. Momentan ist der Pokal (wie so oft) an der Elbe. Max Lier, 24, sagt: „Zu meiner Zeit, in den 90ern, haben wir aber auch mal gewonnen, waren eine starke Mannschaft. Zum Glück erneuert sich ja dieser 800 Jahre alte Chor ständig, sodass alle zehn Jahre völlig neue Leute auf dem Platz stehen."
Am Ende der Kaffeerunde wird sie dann doch noch aufgeworfen, die alte Frage, warum auch nach 800 Jahren keine Mädchen mitsingen dürfen. Ex-Thomaner Tobias Rosenthal, 40, erklärt das so: „Knabenstimmen haben eine Klangfarbe, die viele Menschen als sehr rein empfinden. Mädchen singen zwar auch sehr schön, aber es klingt halt nicht so erhaben!"-

Text: Sebastian Krüger
Super Illu Nr.13 v.22.03.2012

Show Programm
Hans-Jürgen Beyer interpretiert seine Lieder mit Gefühl und Ausdruckskraft.
Mit seiner großen Stimme und sympathischen Ausstrahlung begeistert er jedes Publikum. Mehr erfahren...